
Welche Spuren hat der Krieg bei denen hinterlassen, die Opfer, Täter oder
beides waren? Im Gegensatz zur heutigen Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen
von Bundeswehrsoldaten wurde in den Jahren nach 1945 über mögliche psychische
Schäden nicht gesprochen. BriefundSiegel war im Gespräch mit Herr Dr. med.
Bertram von der Stein, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie &
Psychotherapie aus Köln, der über kriegsbedingte Traumata und deren Weitergabe
an Folgegeneration forscht.
BriefundSiegel: Herr Bertram von der Stein, Sie sagen, dass über psychische
Nachkriegsstörungen erst seit den letzten 15 Jahren gesprochen wird, davor war
es eigentlich ein Tabu- Thema. Warum ist das der Fall?
Von der Stein: Das hat damit zu tun, dass man auf Grund der deutschen Kriegsschuld nicht
offen über Schuld und den eigenen Opferstatus, da die meisten ja Täter und
Opfer zugleich waren, reden konnte. Das
ist ein Tabu gewesen, weil man natürlich in der Diskussion befürchtet hat, dass
das von rechtslastigen Kreisen ausgenutzt wird, um die deutsche Kriegsschuld
oder die Schuld am Holocaust zu relativieren und die Vertriebenenschicksale mit
dem Holocaust gleichzusetzten. Das muss man natürlich strengstens
unterscheiden.
BriefundSiegel: Bei vielen Nachkriegsopfern haben sich psychische Störungen erst sehr spät
im Leben entwickelt. Bei dem jüdischen Schriftsteller Primo Levi zum Beispiel
wird vermutet, er habe sich auf Grund seiner Erlebnisse als Gefangener in
Ausschwitz mit 68 Jahren schließlich das Leben genommen. Wie erklären Sie sich,
dass psychische Störungen erst im späteren Leben auftreten?
Von der Stein: Es gibt ein grundsätzliches Problem im Alter, nämlich ab etwa dem 75.
Lebensjahr wird praktisch der Körper zum Organisator des psychischen
Geschehens. Das heißt man kommt mit den Themen Endlichkeit und Tod mehr in
Verbindung und auch oft mit körperlichen Gebrechen. Mit dem Ausgeliefertsein an
andere kommen alte Traumata wieder hoch.
BriefundSiegel: Wie sehen sie die heutige Aufarbeitung des Holocaust. Das Land Bayern ist
dabei den Besuch einer KZ- Gedenkstätte zu einem Pflichttermin für Schüler zu
machen. Hat der Besuch einer KZ- Gedenkstätte einen positiven Einfluss auf die
Aufarbeitung des Holocaust oder sehen es die Schüler, provokant gesagt, als
einen schulfreien Klassenausflug?
Von der Stein: Ich glaube die Frage kann man global gar nicht beantworten, es hängt davon
ab, wie weit Lehrer und Historiker so etwas vernünftig vorbereiten. Grundsätzlich
halte ich es für wichtig, gerade für Leute die in der Pubertät oder zumindest
in den Oberstufenjahrgängen sind, dass man sich historischen Themen oder auch
Themen zuwendet, in denen sich die eigene Geschichte wiederspiegelt. Das
Problem ist, dass manche dieses Thema ungeschickt darbieten, sodass die Schüler
es nicht mehr hören wollen.
BriefundSiegel: Mit Blick auf die heutige rechtsextreme Szene: Neonazis, die Hitler als
Ikone feiern. Kennen oder verstehen sie die Geschichte nicht, oder wollen sie
die Geschichte nicht kennen oder verstehen?
Von der Stein: Also manchmal ist das wiederkehrendes Verdrängen. Das sind Leute, die aus
Familien stammen, in denen die deutsche Schuld verleugnet worden ist und das in
der dritten oder vierten Generation wieder auftritt. Und natürlich ist der
Rechtsradikalismus ein Ventil für sozial Benachteiligte oder
Unterprivilegierte. Man darf ja nicht vergessen, der Nationalsozialismus ist im
Grunde auch durch die Bedrohung des Kleinbürgertums historisch entstanden. Und
diese antisemitischen Ressentiments sind natürlich nach wie vor verbreitet. Sie
sind vielleicht in den letzten Jahren etwas salonfähig geworden, aber die
Tabuschwelle sinkt natürlich.
BriefundSiegel: In den USA wird jährlich am 11. November der Veterans Day gefeiert, es gibt ein eigenes Kriegsveteranenministerium,
das United States Department of Veterans
Affairs, und auch sonst genießen Veteranen in den Vereinigen Staaten hohes
Ansehen. In Deutschland ist das nicht der Fall. Auch eine Ursache der deutschen
Schuld?
Von der Stein: Es gibt einen historischen Hang zum Pazifismus alleine auf Grund der
deutschen Schuld. Damals war die Wiederbewaffnung der Bundeswehr durchaus eine
umstrittene Angelegenheit und wir haben natürlich historisch gesehen ein
gebrochenes Verhältnis zu diesen Dingen, sodass Soldaten sicherlich sozial daher
auch einen schlechteren Stellenwert haben.
Bild: By Flaviz Guerra [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr