Sonntag, 29. Juni 2014

Deutsche Schuld und Nachkriegsgenerationen


Am 6. Juni 2014 erinnerten Politiker und Veteranen an den sogenannten „D-Day“ von 1944 und die Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Terror. Auch 70 Jahre danach ist man weiterhin mit der Aufarbeitung des Holocaust und dessen Folgen beschäftigt.

Welche Spuren hat der Krieg bei denen hinterlassen, die Opfer, Täter oder beides waren? Im Gegensatz zur heutigen Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen von Bundeswehrsoldaten wurde in den Jahren nach 1945 über mögliche psychische Schäden nicht gesprochen. BriefundSiegel war im Gespräch mit Herr Dr. med. Bertram von der Stein, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie aus Köln, der über kriegsbedingte Traumata und deren Weitergabe an Folgegeneration forscht.

BriefundSiegel: Herr Bertram von der Stein, Sie sagen, dass über psychische Nachkriegsstörungen erst seit den letzten 15 Jahren gesprochen wird, davor war es eigentlich ein Tabu- Thema. Warum ist das der Fall?

Von der Stein: Das hat damit zu tun, dass man auf Grund der deutschen Kriegsschuld nicht offen über Schuld und den eigenen Opferstatus, da die meisten ja Täter und Opfer zugleich waren, reden konnte.  Das ist ein Tabu gewesen, weil man natürlich in der Diskussion befürchtet hat, dass das von rechtslastigen Kreisen ausgenutzt wird, um die deutsche Kriegsschuld oder die Schuld am Holocaust zu relativieren und die Vertriebenenschicksale mit dem Holocaust gleichzusetzten. Das muss man natürlich strengstens unterscheiden.

BriefundSiegel: Bei vielen Nachkriegsopfern haben sich psychische Störungen erst sehr spät im Leben entwickelt. Bei dem jüdischen Schriftsteller Primo Levi zum Beispiel wird vermutet, er habe sich auf Grund seiner Erlebnisse als Gefangener in Ausschwitz mit 68 Jahren schließlich das Leben genommen. Wie erklären Sie sich, dass psychische Störungen erst im späteren Leben auftreten?

Von der Stein: Es gibt ein grundsätzliches Problem im Alter, nämlich ab etwa dem 75. Lebensjahr wird praktisch der Körper zum Organisator des psychischen Geschehens. Das heißt man kommt mit den Themen Endlichkeit und Tod mehr in Verbindung und auch oft mit körperlichen Gebrechen. Mit dem Ausgeliefertsein an andere kommen alte Traumata wieder hoch.

BriefundSiegel: Wie sehen sie die heutige Aufarbeitung des Holocaust. Das Land Bayern ist dabei den Besuch einer KZ- Gedenkstätte zu einem Pflichttermin für Schüler zu machen. Hat der Besuch einer KZ- Gedenkstätte einen positiven Einfluss auf die Aufarbeitung des Holocaust oder sehen es die Schüler, provokant gesagt, als einen schulfreien Klassenausflug?

Von der Stein: Ich glaube die Frage kann man global gar nicht beantworten, es hängt davon ab, wie weit Lehrer und Historiker so etwas vernünftig vorbereiten. Grundsätzlich halte ich es für wichtig, gerade für Leute die in der Pubertät oder zumindest in den Oberstufenjahrgängen sind, dass man sich historischen Themen oder auch Themen zuwendet, in denen sich die eigene Geschichte wiederspiegelt. Das Problem ist, dass manche dieses Thema ungeschickt darbieten, sodass die Schüler es nicht mehr hören wollen.

BriefundSiegel: Mit Blick auf die heutige rechtsextreme Szene: Neonazis, die Hitler als Ikone feiern. Kennen oder verstehen sie die Geschichte nicht, oder wollen sie die Geschichte nicht kennen oder verstehen?

Von der Stein: Also manchmal ist das wiederkehrendes Verdrängen. Das sind Leute, die aus Familien stammen, in denen die deutsche Schuld verleugnet worden ist und das in der dritten oder vierten Generation wieder auftritt. Und natürlich ist der Rechtsradikalismus ein Ventil für sozial Benachteiligte oder Unterprivilegierte. Man darf ja nicht vergessen, der Nationalsozialismus ist im Grunde auch durch die Bedrohung des Kleinbürgertums historisch entstanden. Und diese antisemitischen Ressentiments sind natürlich nach wie vor verbreitet. Sie sind vielleicht in den letzten Jahren etwas salonfähig geworden, aber die Tabuschwelle sinkt natürlich.

BriefundSiegel: In den USA wird jährlich am 11. November der Veterans Day gefeiert, es gibt ein eigenes Kriegsveteranenministerium, das United States Department of Veterans Affairs, und auch sonst genießen Veteranen in den Vereinigen Staaten hohes Ansehen. In Deutschland ist das nicht der Fall. Auch eine Ursache der deutschen Schuld?


Von der Stein: Es gibt einen historischen Hang zum Pazifismus alleine auf Grund der deutschen Schuld. Damals war die Wiederbewaffnung der Bundeswehr durchaus eine umstrittene Angelegenheit und wir haben natürlich historisch gesehen ein gebrochenes Verhältnis zu diesen Dingen, sodass Soldaten sicherlich sozial daher auch einen schlechteren Stellenwert haben.




Bild: By Flaviz Guerra [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr

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